Schwester M. Herbertis Lubek
Die aktuelle politische Situation erinnert mich stark an die Geschichte meiner Familie und meine Prägung durch sie. Ich bin im zweiten Weltkrieg geboren. Mein Vater war an der Front. Meine Mutter wohnte mit meinem sechs Jahre älteren Bruder in Krappitz /Oberschlesien. Meine Großeltern und Tanten mütterlicherseits wohnten in Oppeln. Dort wurde ich am 29. Oktober 1944 in der Frauenklinik geboren, in der unsere Schwestern tätig waren, und in der Peter Paul Kirche in Oppeln auf den Namen Jutta getauft.
Im Februar 1945 brachte uns mein Onkel zu seinen Verwandten nach Wallisfurth/ Grafschaft Glatz, um unsere Familie, vor allem die Frauen, vor den Übergriffen der einmarschierenden Soldaten der Besatzungsmächte zu schützen. Später waren wir mit anderen geflüchteten Familien im Schloß in Altheide/ Grafschaft Glatz untergebracht, wo sich auch eine Ärztin um uns kümmerte. Meine Großeltern, die ein sogenanntes „Wasserpolnisch“ sprachen, waren eine große Hilfe und ein Schutz für die Frauen, die auch hier nicht mehr sicher waren und sich wiederholt mit ihren Kindern verstecken mussten.
Im Frühjahr 1946 mussten wir den Ort verlassen und wurden in einen Güterzug „verladen“; niemand wusste, ob wir in die „Zwangsarbeit“ oder in die „Freiheit“ fuhren. Im März 1946 kamen wir in einem kleinen Ort in Norddeutschland an, nahe der Nordsee. Die Vertriebenen wurden auf die Dörfer verteilt. Wir hatten das Glück, dass unsere Familie zusammenblieb. Meiner Mutter wurde mit uns Kindern ein Zimmer in einer Familie zugewiesen. Wir hatten es gut; es waren nette Leute. Unsere Familie hielt zusammen, und wir halfen uns gegenseitig. Und wenn ich Vieles auch nur aus dem Erzählen weiß, so hat es mich dennoch stark geprägt: die Sorge umeinander, das Teilen, das Verzichten können, die Zufriedenheit mit dem Wenigen und die Freude über kleine Annehmlichkeiten und Geschenke. Ich habe meine Großeltern so gerne zusammen Beten und Kirchenlieder singen hören. Sie hatten eine so angenehme Alltagsfrömmigkeit, in die ich hineinwachsen konnte. Da wir aus dem vornehmlich katholischen Schlesien in die norddeutsche Diaspora kamen, erlebten wir die Gottesdienste als großes Geschenk, vor allem, wenn heimatliche Lieder und Gebete in den Gottesdiensten Raum fanden. Das hat auch mich sehr berührt.
An die Rückkehr meines Vaters aus der französischen Gefangenschaft kann ich mich nicht erinnern, wohl aber daran, dass unser Wohnraum – wir hatten inzwischen eine Zweizimmerwohnung – für uns zu eng wurde. Mein Vater hatte Arbeit gefunden und wollte uns eine Zukunft in Deutschland aufbauen, während meine Mutter auf eine Rückkehr in die schlesische Heimat hoffte. 1950 konnte sich mein Vater, auch dank der Hilfe meiner Mutter, als Kaufmann in einem Nachbardorf selbständig machen, und mein Bruder und ich wurden in die zu erledigenden Aufgaben mit eingebunden. Das war selbstverständlich für uns.
Der Mittelpunkt unserer Familie blieben unsere Großeltern mütterlicherseits, unsere gütige, verständnisvolle Großmutter und unser etwas knurriger Großvater, beide meine Vorbilder im Gebet und im Glauben. Die Familie meines Vaters wurde durch den Krieg von uns getrennt. Sie lebten hinter dem „eisernen Vorhang“ in der späteren DDR. Trotz der Unterstützung durch regelmäßige Lebensmittelpakete und Briefkontakte blieben sie uns fremd.
Dies ist der Hintergrund, auf dem sich mein Glaubensleben entwickelte: der schlichte, überzeugend gelebte Glaube meiner Großmutter, ihre aus dem Herzen kommenden Gebete, das gemeinsame Rosenkranzgebet meiner Großeltern und die innig gesungenen religiösen Lieder haben mein Herz weit gemacht für Gottes Liebe und Anruf. Meine Großmutter hat es wunderbar verstanden, meine religiösen Wünsche auf ein normales, gesundes Maß zu bringen und meine Sehnsucht nach dem Guten wach zu halten. Auch meine Mutter leitete mich zu einer guten Verbindung von schulischen und beruflichen Verpflichtungen und kirchlichem Einsatz an, obwohl sie nicht viel Zeit für uns hatte. Sie half mir, mit Ungerechtigkeiten im kirchlichen Kontext umzugehen, und mich mehr an Gott als an sein „Bodenpersonal“ zu halten. Das tut mir noch heute gut.
Die Vorbereitung auf die Feier meiner Erstkommunion hat die Liebe zu Gott weiter bestärkt. Je älter ich wurde, desto bewusster habe ich Gottes Wirken in meinem Leben erfahren und mich immer fester an IHN gebunden Der Beginn meines Ordenslebens am 11. Februar 1964 war die dankbare Antwort an Gott, der mich zuerst geliebt und mich in SEINER Liebe bis heute nicht losgelassen hat. So bin ich dankbar für 59 Jahre Leben in unserer Gemeinschaft, für alles Gute und auch für das Schwere, das mich hat reifen lassen in den verschiedenen Diensten in unserer Gemeinschaft, gemeinsam mit den Schwestern, mit denen ich zusammen leben und wirken durfte und für alle, mit denen mich unsere franziskanische Spiritualität und unser Gebetsleben verbindet. Ich danke Gott für meinen Lebensweg, für alles, was ich an Gutem für andere tun durfte, und ich vertraue darauf, dass ER mich weiter führen wird, bis ich IHN einmal von Angesicht zu Angesicht sehen darf und alle meine lieben Wegbegleiter im Himmel wieder treffe.
Mögen wir unser Ziel, Gott zu verherrlichen und zu verkünden, immer in unserem Herzen tragen und in unserem Leben verwirklichen.
Schwester M. Herbertis Lubeck, Mai 2023